Die vorliegende Arbeit gibt einen Einblick in das Thema "Schülerschaft-Zeremonien" und referiert über das klassische Schüler-Lehrer Verhältnis innerhalb der chinesischen Kampfkünste. Der Leser möge allerdings beachten, dass sich die Zeremonien und auch einige der Ansichten in der uns freundlicherweise von Autor Jake Burroughs zur Verfügung gestellten Arbeit teilweise erheblich von denen im Wing Tsjun Fachgebiet gängigen unterscheiden.
Schülerschaft Zeremonien der chinesischen Kampfkünste
Herbst 2003
Jake Burroughs
Übersetzt von T.L. Böhlig
Anmerkung des Übersetzers:
Das englische Wort "disciple" bedeutet soviel wie Jünger. Da wir in der deutschen Sprache diesem Wort eine andere Bedeutung beimessen und es meistens im Zusammenhang mit einer religiösen Gruppierung steht, habe ich um Missverständnissen zuvor zu kommen der Einfachheit halber die Worte "Schüler des inneren Kreises" oder "Lehrling" benutzt, welches den Schüler von seinen Mitschülern abhebt und ihm eine andere Stellung gibt.
Chinesische Kampfkünste erfreuen sich einer langen und reichen Tradition, welche über viele Dekaden hinweg die Aufmerksamkeit der "Westler" erregte und nunmehr ebenfalls als fester Bestandteil zum Leben vieler Menschen in den USA und Europa zählt. Sei es zur Stärkung der physischen Fitness, der Disziplin oder zum Erlernen von Selbstverteidigung, Millionen begeisterter Menschen befassen sich heute hier im Westen mit Kampfkünsten.
Aber wie viele dieser Anwender verstehen tatsächlich die tiefen kulturellen Ursprünge der Künste, die sie betreiben? Wie viel dieser Kultur wurde neben Schlagen und Treten wirklich übermittelt?
Durch verschiedene Faktoren, wesentliche Sprachbarrieren eingeschlossen, verstehen nur sehr wenige Menschen im Westen (und heutige Chinesen, denen dieses Wissen nie überliefert wurde) die traditionelle Rolle zwischen Schüler und Lehrer. Das Konzept sich selbst komplett einer Kunst, einem Lehrer und / oder Schule (Guan) zu verschreiben, oder mit anderen Worten ein Schüler des inneren Kreises zu werden, ist vielen heutigen Kampfkünstlern / -sportlern völlig unbekannt.
Ich werde die Schülerschaft-Zeremonie aus verschiedenen Perspektiven untersuchen und eine generelle anthropologische Studie über diesen lange geheim gehaltenen wesentlichen Aspekt der chinesischen Kampfkünste erstellen.
Zuerst sollte ich etwas zu den Quellen erwähnen. Es gibt praktisch keinerlei schriftliche ursprüngliche Quellen über Schülerschaft-Zeremonien (wobei man nicht außer Acht lassen darf, dass ich keine chinesischen Quellen untersucht habe, da meine chinesischen Kenntnisse dafür zu begrenzt sind).
Tatsächlich gibt es mehrere Faktoren, die darauf hinweisen, warum ich keine Niederschriften finden konnte. Zum einen waren einige Meister einfach des Lesens und Schreibens nicht mächtig, daher wurden Informationen über Umgangsformen und -Prozeduren nur in verbaler Form weitergegeben.
Doch es gab auch weitere Gründe, wie z.B. den gravierenden Punkt der Geheimhaltung. Nicht nur über Adoptionen und Schülerschaft-Zeremonien wurde nicht öffentlich gesprochen. Tatsächlich waren Niederschriften über Techniken der Kampfkünste generell sehr rar. Existierten jedoch schriftliche Informationen, so wurden diese von allen bis auf den ernsthaftesten und hingebungsvollsten Schülern ferngehalten. So konnte keine rivalisierende Schule oder Clan die Feinheiten des Stiles erlangen, welches sehr wichtig war in einer Zeit, in der das Leben oft von den Fähigkeiten in den Kampfkünsten abhing.
Wurde nun ein Schüler in eine Kampfkunstfamilie aufgenommen, so behandelte man dieses als Familienangelegenheit unter Ausschluss Außenstehender, ähnlich wie hierzulande mit Hochzeiten oder Beerdigungen umgegangen wird.
Daher stützt sich diese Arbeit fast zur Gänze auf persönliche Interviews, die ich mit Meistern, Lehrern oder Anwendern die Erfahrung mit Schülerschaft-Zeremonien hatten oder Zeuge eben dieser wurden machte.
Ich entschied mich, meine Forschungen nicht auf einen einzelnen Stil, Clan oder eine geographische Gegend Chinas zu konzentrieren, sondern die verschiedenen Perspektiven aus Nord- und Süd-China, sowie von Stilen, die sich auf innere Anwendungen konzentrieren (internal arts), wie auch auf Äußere (external arts).
Mit wenigen Ausnahmen halfen die Meister gerne in der Bereitstellung von Informationen, auch wenn einige das Thema als zu großes Tabu ansahen, um es mit jemandem außerhalb ihrer Schule zu teilen.
Eine grobe Kurzdarstellung chinesischer Künste ist wichtig, da dies der hauptsächliche Kontext meiner Arbeit sein wird.
Generell kann man traditionelle chinesische Kampfkünste in vier Kategorien einteilen:
Die erste wäre die geographische Einteilung in nördliche und südliche Schulen. Der gelbe Fluss wird üblicher Weise zur Trennung benutzt, aber auch dieses kann nur als Generalisierung angesehen werden, da in Hongkong ansässige Lehrer ihre südlichen Stile nach Beijing brachten und anders herum. Für den Anfänger scheinen nördliche und südliche Stile große Unterschiede in ihren Techniken und Anwendungen zu haben aber für den Fortgeschrittenen sind diese Unterschiede willkürlich. Das Gleiche gilt für die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Künsten. Innere Stilen wie Tai Ji, Xing Yi, und Bagua sind bekannt dafür, dass sie mehr Wert auf die Generierung des "Chi" oder interner Energie legen als äußere.
Aber auch hier erschließt sich dem Fortgeschrittenen mit der Zeit die Erkenntnis, dass die Unterschiede eher gering sind. Überhaupt fehlten diese Unterscheidungen in der Begrifflichkeit der Künste ganz und gar, bis Sun Lu Tang um die Wende des 20. Jh. den Begriff "innere" schuf.
Schaut man sich das Ganze nüchtern an, so gibt es nur limitierte Wege, einen Knochen zu brechen, Schläge oder Würfe anzubringen, oder jemanden mit bloßer Hand zu verletzen, daher ist auch die Anzahl der Techniken, die dafür entwickelt werden können begrenzt.
Dem verstorbenen Liu Yun Chiao zur Folge, gibt es nur wenig Unterschiede in den chinesischen Kampfkünsten denn: Alle Kampfstile sind Kinder der gleichen Mutter.
Von diesen Faktoren abgesehen, gibt es Hunderte unterschiedlicher Stile. Traditionell wurden diese Stile innerhalb einer Familie praktiziert und gepflegt und nicht außerhalb der Familie unterrichtet. So wurde das Xing Yi Chuan der Song Familie auch nur an Familienmitglieder der Song Familie weitergegeben.
Mit der Zeit und sich verändernden Einstellungen realisierten die Meister, dass ihr Stil eines Tages mit ihnen sterben würde, wenn dieser nicht auch außerhalb der Familie unterrichtet wurde. Also begannen sie, in dem Dorf oder der Stadt in der sie lebten zu unterrichten. Wie das legendäre Dorf Chen, in welchem man laut Überlieferung die besten Chen Tai Ji Anwender findet, wurden bestimmte Orte berühmt für die in ihm praktizierte Kampfkunst.
Als Mitte der Ming Dynastie (1368-1644) der Handel mit Europa aufzublühen begann, wurden Schusswaffen nach China importiert, allerdings nicht allgemein angewendet, bis ins späte 19. Jahrhundert.
Vor der Einführung von Langwaffen wie z.B. Gewehren, waren Kampfkünste bzw. die Verteidigung mit Kurzstreckenwaffen wie Speeren, Stäben oder Schwertern (welche zum Ausbildungsprogramm aller chinesischen Kampfkünste gehörten) das hauptsächliche Mittel zur Gegenwehr.
Ein bestimmter Stil hatte Techniken und Strategien, welche man einzig in seiner Schule oder in seinem System fand, daher war der Schutz dieser Informationen zwingend erforderlich.
Es passierte häufig, dass ein Kämpfer eine Schule betrat und den Lehrer herausforderte. Beherrschte nun ein Rivale den Stil des anderen, so verlor dieser seinen Vorteil. Üblicher Weise ließ der Lehrer seine höchsten Schüler zuerst kämpfen und sollte der Herausforderer in der Lage sein, diese zu besiegen, so musste der Lehrer die Herausforderung annehmen und selber kämpfen.
Verlor nun der Lehrer den Kampf, so war dies das Ende seiner Karriere.
Sein Ruf nahm Schaden, denn niemand wollte von jemandem unterrichtet werden, der von einer anderen Schule besiegt wurde. Oft übernahm der Herausforderer nach gewonnenem Kampf sogar die Schule und sämtliche Schüler des unterlegenen Lehrers. Daher unterlagen die Techniken und Theorien einem so großen Schutz.
So wurden auch nur die Schüler die es am ernstesten meinten zu sog. Schülern des inneren Kreises und in die internen Geheimnisse des Stiles eingeführt.
Höhere Techniken und Theorien, welche häufig sog. Schwarze Hand-Techniken (Techniken mit fatalen Folgen) beinhalteten, wurden nur an Schüler weitergegeben, welche versprachen, diese niemals außerhalb der Schule anzuwenden oder zu zeigen.
Doch als Schusswaffen in China an der Tagesordnung waren, wurden diese Faktoren hinfällig. Am besten drückte es Sam Colt selber aus: „Die Schusswaffe ist der große Gleichsteller der Menschheit.“
Heute spielen Schüler des inneren Kreises eine andere Rolle. Die fortgeschrittensten Schüler werden auserwählt, um die Traditionen und Lehren der Kunst weiter zu tragen und ihnen werden Geheimnisse anvertraut, die der Meister niemals mit jemandem von außerhalb teilen würde. Der Schüler muss seine Hingabe und Loyalität, sowie ein tiefes Verständnis des kampfkünstlerischen Wu Te vorweisen.
Jeder meiner Interviewpartner betonte explizit die Qualitäten Loyalität, Hingabe und Wu Te wenn es um die Akzeptierung eines solchen Schülers geht.
Das Wu Te ist eine spezielle moralische Richtlinie für Kampfkünstler. Es ist die gängigste Methode in der Entscheidung, einen Schüler in den inneren Kreis aufzunehmen – wichtiger sogar als die Fähigkeiten oder das Talent des Schülers.
Obwohl die spezifischen Details des Wu Te von Schule zu Schule und Lehrer zu Lehrer differieren, kann man doch generell zwei Kategorien bilden: Die Moral des Geistes und die Moral der Tat.
Die Moral des Geistes beinhaltet Mut, Ausdauer, Willen, Geduld und Beharrlichkeit.
Die Moral der Tat beinhaltet Respekt, Loyalität, Vertrauen, Rechtschaffenheit und Demut.
Warum soviel Wertlegung auf diese Aspekte?
Ein Lehrer der Kampfkünste unterweist in Techniken, die anderen Menschen Schaden zufügen und vielleicht sogar den Tod bringen können. Daher muss der Lehrer gewissenhaft einen Schüler erwählen, welcher dieses Wissen niemals missbrauchen wird.
Kampfkunsttechniken wurden entwickelt, um den Menschen zu verbessern und im Notfall verteidigungsfähig zu machen. Es wäre unethisch, einen Serienmörder darin zu schulen, seine Hände zu benutzen, um das Leben eines anderen zu nehmen, oder einem Verbrecher Techniken zu verschaffen, um noch größere Macht über seine Opfer ausüben zu können.
In traditionellen chinesischen Kampfkünsten ist der Schüler gleichwohl ein direkter Repräsentant seines Lehrers. Für den Lehrer bedeutet ein drohendes oder belästigendes Verhalten seiner Schüler einen Gesichtsverlust. Im Orient gilt dieses als ein sehr ernster Verstoß.
Jede Schule die ich besuchte, hatte eine Niederschrift ihres Wu Te (Schulordnung) an einer Wand hängen. Man kann die Wichtigkeit des Wu Te im Bezug auf traditionelle Schulen und Lehrer nicht genug hervorheben. Sobald der Schüler sich dazu entscheidet, nach dem im Wu Te zitierten Eid zu leben, ist dieses wie in Stein gemeißelt. Den Eid zu brechen ist gleich bedeutend mit einem Bruch zwischen Schüler und Lehrer und häufig wird der Schüler dann der Schule verwiesen.
"Das Wort eines Kriegers ist wie ein Pfeil. Einmal abgeschossen verirrt es sich nicht bis es sein Ziel trifft" sagt Gene Ching.
Was aber bedeutet es, ein solcher Schüler zu sein und warum einer werden?
Riten eines solchen Weges finden sich in allen Kulturen, von den australischen Aboriginies und ihren "Walk About´s" bis zum europäischen Schildknappen, der durch das Ablegen bestimmter Schwüre, einem Gebet zu Gott und der dreifachen Berührung eines Schwertes auf jeder seiner Schultern von einem Priester zum Ritter geschlagen wird und dann als Soldat für Ruhm und Ehre des Vaterlandes kämpfen darf.
Auch ein traditioneller chinesischer Krieger führte das Leben eines Soldaten. Er ging nicht einfach nur einem Beruf nach, wie es vielleicht heute manchmal der Fall ist. Er trainierte täglich von morgens bis abends, als hinge sein Leben davon ab (was häufig tatsächlich der Fall war). Ein Schüler oder Lehrling der Kampfkünste schloss sein Training ab und absolvierte dann eine Zeremonie, die ihn zum Krieger machte. Als modernes Beispiel sei die United States Army Airborne Jump School genannt, welche ihren Absolventen eine Anstecknadel in der Form silberner Schwingen verleiht, um sie somit in den Kreis der Armee Infanteristen aufzunehmen. Für seine Mitsoldaten gehört der Absolvent damit zur Elite. Um das Ritual zu besiegeln, befestigt er die Anstecknadel ohne Rückverschluss an seiner Uniform und jedes Mitglied seines Jahrgangs schlägt ihm im Vorbeigehen die Nadel in die Brust.
Dieser schmerzhafte Übergangsritus oder Schritt ins Erwach-sensein wird nur mit den Kameraden der Luftwaffeneinheit geteilt.
Zeremonien wie diese werden oft mit dem Verlassen der Kindheit in das Erwachsenenalter hinein assoziiert. Krieg und Männlichkeit umfassen seit den jüngsten Tagen der Zivilisation Testosteron getränkte Symbiosen. Laut Ehrenreich „führen Männer seit jeher Krieg aus den unterschiedlichsten Gründen, aber der sich am häufigsten wiederholende ist der, klar zu stellen, dass sie tatsächlich „Männer“ sind.“
Auf chinesische Kampfkünste bezogen ist dieser Übergangsritus die Schülerschaft-Zeremonie. Das Versprechen Unterstützung, Loyalität und Hingabe seinem Stil und / oder Meister entgegenkommen zu lassen, macht den Schüler zum eigentlichen Lehrling.
Alle Meister die ich interviewte betonten, dass ein Schüler nicht besonders talentiert oder sachkundig sein muss, um zum Lehrling berufen zu werden.
Viele Lehrer setzen eine gewisse Zeit des Trainings, in der Regel 3 oder mehr Jahre in einer bestimmten Schule voraus. Alle Lehrer betonten hingegen Loyalität, Charakter (sinnverwandt mit dem Wu Te) und Hingabe als die wichtigsten Voraussetzungen zur Ernennung eines Schülers des inneren Kreises. Der Lehrling ist männlich (mit Frauen befassen wir uns eingehender weiter unten) und in den meisten Fällen keiner anderen Schule, keinem anderen Stil oder einem anderen Lehrer zugehörig. Er muss starke Disziplin besitzen und ein tiefes Verständnis der Verantwortung und Konsequenzen, welche die Schülerschaft mit sich bringt. Einer der behandelten Stile wies außerdem die Charakteristik auf, dass der Anwärter dem Lehrer persönlich und formell von einem älteren Schüler des inneren Kreises vorgestellt wurde.
In der Vergangenheit wurde der Schüler dem Lehrer in manchen Fällen wie ein Waise anvertraut, um von ihm aufgezogen und beschützt, und schließlich in den Kampfkünsten unterwiesen zu werden. Der Junge wurde vom Lehrer erzogen, als wäre er sein Sohn. Er lebte in dessen Haus, trainierte täglich und kümmerte sich um niedere Tätigkeiten. Durch dieses Zusammenleben entstand ein starkes Band zwischen Schüler und Lehrer.
In der modernen Gesellschaft ist dieses ungewöhnlich. Daher erhält die Aufnahme in den inneren Kreis eine andere Bedeutung. Heute stellt die Schülerschaft eine letzte Bemühung dar, um an eine lange Tradition von Kampfkünstlern anzuschließen, deren Fähigkeiten heute nicht mehr lebensnotwendig sind und deren Wissen sterben wird, sofern ihre Schüler nicht in der Lage sind, ihre Lehren weiter zu tragen.
Ching drückt es folgendermaßen aus:
„Der Akt ein Lehrling zu werden, schmiedet ein einzigartiges Band zwischen dir und der langen Reihe Vorfahren, die vor dir diese Tradition gefestigt haben.“
Amos schreibt in „A Hong Kong Southern Praying Mantis Cult“, einem der raren englischen Artikel über Schülerschaft: „Wie chinesische Geheimgesellschaften der Vergangenheit, bieten zeitgenössische Hong Kong Kampfkunst Tempel-Kulte sozialen Halt, sowie eine Körperschaft im Kleinen, durch welche Kampfkünstler Autorität, Schutz, Unterstützung, Seelenverwandtschaft und durch Rituale ein Maß an spiritueller Zufriedenheit erlangen können.“
Obwohl dieses Zitat einen Hauch des Themas Schülerschaft wiedergibt, stimme ich einigen Aspekten nicht zu. Der Ausdruck „Kult“ ist im Bezug auf Kampfschulen inkorrekt. Seriöse Kampfkunstschulen sehen in diesem Ausdruck eine üble Beschimpfung, die von dem Verkehr mancher Schulen mit Triaden (organisierte Verbrechersyndikate) herrührt.
Obwohl diese Schulen rar sind, existieren sie und gelegentlich nimmt die chinesische Regierung unter großer Medienberichterstattung einige Mitglieder fest um klar zu stellen, dass Kampfgruppen in China nicht erwünscht sind.
Des Weiteren deutet Amos an, dass sich die meisten Kampfkunstgruppen aus armen Individuen zusammensetzen. Das mag in der Gruppe die er beobachtete der Fall sein, aber meine eigene Beobachtung zeigte mir, dass Schülerschaft-Zeremonien in nahezu allen traditionellen Schulen vollzogen werden, unabhängig von finanzieller Situation oder gesellschaftlichem Status. Einen Aspekt den Amos hervorhebt ist der einer „fiktiven Familie.“ Unabhängig von Blutsverwandtschaft wird der Schüler nach der Zeremonie tatsächlich als ein Teil der Familie des Lehrers angesehen.
Einige ethnische Gruppen wie z.B. die Hakka und viele südliche Schulen des Hung Gar (Hung Familien System) versehen Schülerschaft-Zeremonien sogar mit dem Namen Adoptions-Zeremonien.
Die Klassenstruktur der Kampfkünste wurde ursprünglich nach konfuzianistischen Hierarchien innerhalb von Familien gestaltet. Eine eingehende Beleuchtung aller Aspekte des Konfuzianismus würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, also werde ich nur die Grundaspekte konfuzianistischer Beziehungsmodelle erörtern.
Das II. Buch von Arthur Waleys Übersetzung der „Gesammelten Werke des Konfuzius“ fasst den Standpunkt folgendermaßen zusammen: „Tsu-yu fragte nach der Behandlung von Eltern. Der Meister antwortete: Liebende Kinder erkennt man heutzutage daran, dass sie dafür sorgen, dass ihre Eltern genug zu essen bekommen. Doch selbst Hunde und Pferde werden dahingehend versorgt. Wenn kein Gefühl des Respekts existiert, worin liegt dann der Unterschied?“
Wie aus dem Text hervorgeht, behandelt der Konfuzianismus eingehend die Thematik Respekt und anständiges Benehmen hinsichtlich der Lebensführung. Es wird einem nahe gelegt, die Wünsche der Eltern nicht zu hinterfragen, da diese älter sind als das Kind und daher Respekt und Loyalität erwarten können. Der Sohn ist dem Vater gehorsam (auch wenn in den meisten klassischen Schriften die männliche Form benutzt wird, gilt dieses offenbar auch für Frauen), der jüngere Sohn ist dem älteren Sohn gehorsam, die Ehefrau dem Ehemann, der jüngere Freund ist dem älteren untergeordnet und der Untertan des Königreiches dem Regenten. Konfuzius´ Ziel war es, einen guten Menschen zu erschaffen, nicht nur gute Taten. Durch diese Regeln in Familien und Beziehungen, so glaubte er, könne er seine Philosophie manifestieren.
Nun, in der Theorie mag der Vater ein weiser, belesener Mann sein, der das Leben verstand und seine Sippe durch die Unterweisung in Moral, Tugend und Rechtschaffenheit in die richtige Richtung führt. Verhielt sich nun das Kind gehorsam und folgte den Lehren des Vaters, so würde es selber zu einer rechtschaffenden Person heranwachsen. Dieser Logik folgend würden also alle jeweils von den Älteren lernen und zwar aus Respekt und Anstand.
In der klassischen Kampfkunst-Familie verhält es sich ebenso und die Beziehungen sind die Gleichen, wie in einer Blutsverwandschaft.
Unten anstehend sind einige Begriffe aufgeführt, die im Kantonesischen Beziehungen ausdrücken:
Sidai: Männlicher Klassenkamerad der nach dir beitritt
Sihing: Männlicher Klassenkamerad der vor dir beitrat
Sifu: Dein Lehrer
Sipak: Der Sihing deines Lehrers
Sigung: Der Lehrer deines Lehrers
Sijo: Der Lehrer des Sigung
Tosuen: Schüler deiner Schüler
Si (oder Shr in Mandarin) bedeutet „Unterrichten.“ Das „fu“ in Sifu ist das chinesische Wort für „Vater.“ Kombiniert bedeutet Sifu also „Vater / Lehrer.“ Wichtig ist zu verstehen, dass nur eingeweihte Schüler des inneren Kreises die Betitelung „Sifu“ benutzen. Die restlichen Schüler sprachen den Lehrer mit „Iaoshi“ oder Lehrer an.
Diese Umschreibung mag belanglos wirken, aber beleuchtet man das Thema intensiv aus den Augen eines leidenschaftlichen Kampfkünstlers, so erhält es durchaus Signifikanz.
Die Rolle des Sifu liegt irgendwo zwischen der eines Vaters, der durch eigenes Beispiel die Unterschiede zwischen Richtig und Falsch darlegt und der eines Lehrers, der den Schüler sicher durch den Sumpf von Ignoranz und Missverständnissen führt.
Oftmals wenden sich die Schüler auch in Schwierigkeiten oder Entscheidungen des Lebens außerhalb der Schule an ihn. Häufig sind diese Schüler dem Lehrer sehr nah, in manchen Fällen sogar näher als die eigene Familie. So kümmerten sich Ha Man Qins Schüler z.B. nach dessen Tod um die Organisation des Begräbnisses und trugen die Kosten anstelle seiner Familie. Um eine solch starke und außergewöhnliche Bindung herzustellen, braucht es natürlich Jahre der Hingabe und des Fleißes, aber sie existieren.
Wie oben angeschnitten, bestehen also hierarchische Strukturen in einer Kampfkunstschule. Ein Schüler mag zu Beginn seiner Ausbildung den Hauptausbilder nicht einmal persönlich sehen, sondern von einem bevollmächtigten „älteren Kung-Fu Bruder“ (Sihing / oder weibl. Sije) unterichtet werden. Von dem Schüler wird dann erwartet, dass er sich verhält als sei der Sifu selber zugegen, unabhängig von Alter oder Reife des unmittelbaren Ausbilders. In der Schule ist ein Schüler der vor einem anderen mit dem Training begonnen hat als führend anzusehen. Die theoretische Idee hinter dieser Erwartung ist die, dass der Anfänger dadurch vom Wissen der „älteren“ Schüler profitieren kann. Selbstverständlich hat der Sifu bei allen Korrekturen das letzte Wort. Hat ein Schüler eine Frage, so bittet er zunächst einen der Sihings um Hilfe. Sollten die beiden zusammen dem Problem nicht Herr werden, so wenden sie sich an den Sifu.
Es gibt drei Ebenen der Schülerschaft:
In der ersten gelobt der Schüler Unterstützung dem Lehrer oder der Schule gegenüber. Dieses kann sogar vollzogen werden, ohne dass der Schüler jemals am Unterricht teilgenommen hat, durch eine Verneigung des Schülers und einem Geschenk oder Geld (Lycee) in einem roten Umschlag (Hong Bao). Rot gilt in China als die Farbe des Glücks und der Freude. Geschenke sind üblich in der chinesischen Kultur zu verschiedenen Anlässen, aber besonders dann, wenn ein Besuch bei älteren Personen oder bei einer höher gestellten Persönlichkeit ansteht.
In der zweiten Ebene finden wir den Schüler des inneren Kreises oder Lehrling, jemand den vom Lehrer mit mehr Verbindlichkeit und Verantwortung ausgestattet wird. Diese Schüler sind sozusagen durch die Türe des Sifu eingetreten und genießen größere Aufmerksamkeit ihres Meisters. Der Ausdruck „innerer Kreis“ (inner door) zeichnet diesen Schüler als jemanden aus, der im inneren Kreis der Familie akzeptiert wird und dem Lehren zuteil werden, die nicht mit den übrigen Schülern geteilt werden. Die Lehren beinhalten häufig gefährliche oder tödliche Techniken, esoterische Theorien, tieferes Verständnis der bereits praktizierten Techniken, die Unterweisung in das Unterrichten des Stiles und oftmals Rezepte für traditionelle Mittel und Tinkturen. Alte Generationen von Kampfkünstlern wurden ebenfalls in ganzheitlichen Heilkünsten geschult. Akupunktur, Tui Na, Gewebemassage und Kräuterkunde waren ursprünglich Teil eines Ganzen, verschwanden aber nach und nach bis in die heutige Zeit.
Getreu der Yin & Yang Theorie, wurde sowohl das Zerstören des menschlichen Körpers, wie auch seine Heilung erlernt, allerdings lernten zumeist nur eingeweihte Schüler die Kunst des Heilens.
Von einem Schüler des inneren Kreises wurde erwartet, dass er Aufgaben übernahm, wie z.B. die Buchführung der Schule, das Unterrichten, die Pflege des alternden Lehrers oder die finanzielle Unterstützung des Lehrers und seiner Familie.
Alle Schüler mussten monatliche Abgaben an den Lehrer entrichten doch von den Nachfolgern wurde erwartet, dass sie sich um alle Belange des Lehrers kümmerten, wie den Einkauf von Lebensmitteln und die Begleichung von Rechnungen, wie auch der Miete. Befand sich der Lehrer in einer finanziellen Notlage, so war es die Aufgabe des Schülers, ihm auszuhelfen.
Die letzte Ebene der Schülerschaft ist die des Erben eines Stils, die wichtigste und hingebungsvollste Ebene. Hier übernehmen die Schüler sämtliche Aufgaben der zweiten Ebene und widmen sich darüber hinaus der Verbreitung des Stiles und der Weitergabe der Lehren des Sifu an nachfolgende Generationen. Diese Schüler lernen das System in seiner höchsten Qualität. So ziehen sie z.B. in eine Gegend, in der das System noch nie unterrichtet wurde und lehren Menschen, die noch nie davon gehört haben. Einer der Gründe, warum viele wundervolle Stile sich nicht entfalten konnten ist der, dass oftmals ein Mangel an Schülern bestand, die sich dieser Aufgabe von ganzem Herzen widmeten. Familienleben und Arbeit alleine nehmen bereits Zeit in Anspruch, auch ohne die nebenamtliche Arbeit der Leitung einer Kampfkunstschule (welche selten finanziell besonders produktiv war). Die meisten Leute trainieren und üben, verpflichten sich aber nicht dazu, die Kunst an weitere Generationen zu unterrichten.
Frauen befinden sich was Schülerschaft betrifft in einem Dilemma. Obwohl von Frauen seit jeher in Chinas Geschichte als ernst zu nehmende Kampfkünstlerinnen die Rede ist, wurden nur wenige jemals zu Lehrlingen. Nach konzufianistischer Tradition hatte die Frau dem Mann gegenüber gehorsam zu sein und durfte keinerlei Geheimnisse ihm gegenüber haben.
War sie nun Schülerin des inneren Kreises eines bestimmten Lehrers und lernte als solche geheime Techniken und Theorien, so war sie verpflichtet, diese mit ihrem Ehemann zu teilen. Gehörte dieser nun zu einem anderen Clan oder einem anderen System, so konnte er diese Techniken stehlen und lernen, sie zu besiegen.
Daher wurden in der Regel nur Nonnen dank ihres Schweige- und Keuschheitsgelübtes in der Schülerschaft zugelassen.
Ich habe versucht, die grundsätzlichen Verantwortungen und Pflichten der Lehrlinge aufzuzeigen, aber auch diese variieren von Schule zu Schule und Lehrer zu Lehrer.
Wenn es einen roten Faden gibt, der sich durch meine gesamte Arbeit zieht, so besteht dieser aus den Schwankungen, die durch Individuen und ihre Lebensweisen auftreten. Ist ein Lehrer z.B. Buddhist oder Hui Ren (chinesischer Moslem), so mögen die Regeln des Wu Te im Bezug auf Sexualität, Alkohol oder Lebensmittel etwas strikter sein. Im Bezug auf die eigentliche Zeremonie existiert eine große Spannbreite unterschiedlicher Traditionen, von kunstvoll bis altmodisch ist alles dabei.
Die meisten Lehrer nannten die Schülerschaft-Zeremonie Bai Shi oder „Kotau“ (eine traditionelle Verbeugung, die dem Lehrer gegenüber Respekt ausdrückt und bei welcher der Schüler auf dem Boden kniet und ihn mit seiner Stirn dreimal berührt).
Weitere Bezeichnungen sind z.B. der „Kotau um durch die Tore zu schreiten“ Bai Men, die „Durch das Tor treten Zeremonie“ Rumen Yishi, die „Kotau vor dem Lehrer Zeremonie“ Bai Shi Yishi oder die „Kotau vor dem Lehrer und Schüler Akzeptierungs-Zeremonie“ Bai Shi Shoutu. In der vorliegenden Arbeit bezeichnen wir den Vorgang als Bai Shi.
Nachdem ein Schüler verstanden hatte, was von ihm erwartet wurde, seine Hingabe und Loyalität bewiesen, freundlich um eine Erwägung seiner Schülerschaft gebeten hatte (oder vom Lehrer gefragt wurde) und akzeptiert wurde, fand die tatsächliche Bai Shi Zeremonie statt.
Ein besonderes Datum, wie z.B. ein Jubiläum der Schule, der Geburtstag des Sifu oder das chinesische Neujahrsfest wurde als Tag für das Ereignis auserkoren. Schülerschaft-Zeremonien fanden nicht regelmäßig statt. Manchmal lagen Jahre zwischen ihnen. Gelegentlich wurden sie für nur eine Person abgehalten aber in der Regel weihte der Lehrer immer mehrere Schüler auf einmal ein. Dieses bekräftigte den Aspekt der familiären Bruderschaft, den die Schülerschaft mit sich brachte, da jemand der sich im inneren Kreis bewegte, seinen älteren Mitschülern näher kam als sonst irgendjemand.
Ein zentrales Objekt der Vorbereitung war der sog. Sun Toi (Schrein oder Altar) der Schule. Viele traditionelle Schulen hatten wenigstens einen solchen Schrein um schützenden Geistern und Gottheiten wie z.B. Buddha oder Kuan Yin (sofern der Lehrer oder die Schule sich dem Buddhismus verschrieben hatte) Ehrerbietung darzubringen und/oder um den Vorfahren des Sifu Respekt zu zollen. Manche Schulen stellten ebenfalls Bilder verstorbener Ahnen des jeweiligen Stiles auf, Verstorbene auf der linken Seite und Lebende auf der rechten. Manche stellten auch nur die Bilder verstorbener Meister aus. Tony Yang z.B. hängte die Bilder verstorbener Lehrer über die Bilder ihrer lebenden Schüler auf. Einige südliche Schulen nennen ebenfalls einen Altar für den Gott des Krieges Kuan Yu ihr Eigen, sowie einen Schrein für den Geist der Erde, der über den Boden der Schule wacht. Weitere buddhistische Schulen hatten eine Statue oder ein Bild des Kuan Yin (der Buddha des Mitgefühls) aufgestellt.
Und dann gab es noch den Gott des Krieges. Kuan Gong ist eine berüchtigte Gottheit, die in China für Loyalität, Ehrlichkeit, Mut und die Künste des Krieges steht. Er wurde 162 vor unserer Zeitrechnung geboren und erlangte durch seine unerschütterliche Loyalität dem Kaiser der Han gegenüber überwältigenden Rum unter den einfachen Menschen Chinas. Kuan Gongs militärischer Heldenmut gilt in der kriegerischen Welt als legendär. Seine Waffe, bekannt als Kuan Do oder „Der Säbel des Kuan“ besteht im Grunde aus einem Breitschwert, welches an der Spitze eines 6-Fuß langen Stabes befestigt ist und zielsicher von Kuan Gong geschwungen wird. Auf Bildern und Skulpturen Kuan Gongs wird er mit aufmerksamem und konzentriertem Blick dargestellt, begleitet von zwei Dienern, die ihn zur Rechten und zur Linken flankieren. In manchen südlichen Schulen war es Brauch, dass die Schüler auf den Gott des Krieges einen Schwur ablegten. Auch hier trägt sowohl die Statue Kuan Gongs die anderer Heiliger, als auch der Schrein die Farbe rot, um Glück und Freude auszudrücken. Als Zierde wurden häufig Fledermäuse an einem solchen Schrein dargestellt. Sie stehen für Glück und ein langes Leben. Mein Interviewpartner Cottrell merkte des Weiteren an, dass das chinesische Wort „Fook“ (Fledermaus) ebenso ausgesprochen wird wie der Ausdruck, den die Chinesen für Glück benutzen. In drei vor dem Schrein aufgestellten Schalen offerierte man Wein, Fleisch und Früchte. „Banknoten und Kerzen sind ebenfalls gebräuchlich“ so Ching. „Der Altar sollte eher als Gedenkstätte denn als religiöses Objekt angesehen werden.
Er ehrt alle Vorfahren, die ursprünglich die Kampfkunst hervorbrachten.“ Ein Behälter für Räucherkerzen wurde hinter den Nahrungsmitteln und dem Geld aufgestellt, denn laut Überlieferung weckten der Rauch und die süßen Gerüche die Geister der Ahnen, die der Schrein repräsentierte. Aus zwei Gründen wurden den Verstorbenen Zahlungsmittel und Lebensmittel angeboten: Zum einen hofften die an der Zeremonie Teilnehmenden, den Geistern damit gefällig zu sein und im Gegenzug wiederum Segen von ihnen zu empfangen, denn die Offerierung von Essen und Trinken stellt ja nun an sich bereits eine Eigenkapitaleinlage dar, welche die Gottheiten zu tathafter Unterstützung der Lebenden motivieren sollten. In der Regel nahm der Lehrer nach der Zeremonie den Wein und das Fleisch zu sich um damit die Verbindlichkeit des geschlossenen „Vertrages“ zu bekräftigen.
Bai Shi Zeremonien sind private Angelegenheiten, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten werden. Allerdings werden gerne Familienangehörige, enge Freunde und Kampfkunst-Genossen eingeladen, um Reden zu halten, Demonstrationen vorzunehmen oder als Zeuge der Veranstaltung beizuwohnen. Sowohl die älteren Kung-Fu Brüder der Anwärter sind in der Regel anwesend, wie auch die Familie des Sifu.
Auf dem Festland von China fanden die Zeremonien oftmals in Hause des Sifu statt und dieser lud sowohl seine Kampfkunst Brüder, wie auch seinen eigenen Lehrer (so dieser noch lebte) zu dem Ereignis ein. Durch diese Maßnahme waren Zeugen zugegen, welche bestätigen konnten, dass die anwesenden Absolventen bereit für die Schülerschaft waren. Normalerweise war diese Vorkehrung jedoch lediglich eine Formalität, da sich für den Fall, dass der Schüler noch nicht bereit für die Zeremonie war oder jemand Einspruch erhoben haben sollte, bereits weit im Vorfeld mit dem Problem beschäftigt wurde.
Die Meister die ich interviewte erklärten, dass eine formelle Kleidung während der Zeremonie unumgänglich sei und als ich mich mit Francisco Rivera unterhielt, entdeckte ich einen weiteren Aspekt, der tieferen Bezug auf das Thema Adoption nahm. Er erzählte, dass in seiner Schule männliche Eingeweihte die Zeremonie mit bloßer Brust durchführten, um das Bild eines neugeborenen Babys zu symbolisieren. Die Schüler wurden dann in die Kampfkunst Familie aufgenommen und damit sozusagen neu geboren. Zum Abschluss der Zeremonie übergab der Lehrer den neuen Schülern die Schuluniform oder eine farbige Schärpe. Diese war in der Regel rot, um die Farbe des Glücks, des Kampfes, sowie den Triumph des Schülers über seine eigenen Grenzen auszudrücken und sie würdigte seine Hingabe und Leistung.
Um die Wende des 20. Jh. kreierte der japanische Judogründer Jigoro Kano das Gürtel-Graduierungssystem, welches in den heutigen Kampfkünsten vorherrschend ist. In China gab es so etwas traditionell nicht. Der Lehrer unterwies den Schüler eher in weiteren Techniken und Theorien, wenn er der Meinung war, dass dieser so weit sei. Der Status eines Kampfkünstlers wurde also nicht durch einen Gürtel ermittelt, sondern durch sein Können und seine technischen Fertigkeiten.
Moderne Lehrer übernahmen das Graduierungssystem, um den westlichen Durst nach Leistungsbestätigung zu stillen.
Wie dem auch sei, während einer Schülerschaft Zeremonie war es durchaus gängig, eine rote Schärpe verliehen zu bekommen um damit den Status des Schülers im inneren Kreis zu bekräftigen auch wenn dieses die einzige Aussage der Schärpe war.
Kam nun der große Tag, so warteten die Anwärter geduldig vor dem Trainingsraum oder dem Haus in dem sie die Zeremonie empfangen sollten. Die Handlungsweise des Wartens um die Erlaubnis zu erhalten, in einen Trainingsraum einzutreten oder um die Bitte um diese Erlaubnis ist in der gesamten Kampfkunstwelt verbreitet. Dieses ist eine höfliche Etikette, um dem Lehrer, den Schülern und der Schule selber Respekt zukommen zu lassen. Verbreitet ist ebenfalls ein Gruß, in dem die rechte Faust in der offenen linken Hand liegt und bei welchem der Kopf leicht geneigt wird. Auch dieser Gruß drückt die Bitte um Einlass aus oder das Warten auf ein Zeichen des Lehrers, welcher diesen gewährt. Diese Geste drückt ebenfalls Demut und Respekt einem älteren Kampfkünstler gegenüber aus.
Gewöhnlich führte dann ein Sihing die angehenden Lehrlinge einzeln hinein und wies ihnen entweder einen Stuhl, oder einen speziellen Platz zum Knien auf dem Boden zu. Sie wurden dem Alter nach hereingeführt, der Älteste zuerst. Dieser durfte dann dem Sun Toi gegenüber rechts außen Platz nehmen. Der Lehrer saß entweder vor oder neben dem Sun Toi in Richtung der Anwärter. Für den Fall, dass die Frau des Lehrers (Simo) ebenfalls anwesend war, saß diese neben ihrem Gatten. Die knienden Anwärter befanden sich entweder auf einer oder auf beiden Seiten des Sun Toi, aber niemals auf der Höhe des Lehrers. Sie verhielten sich ruhig, bis die Zeremonie anfing. Nachdem der Sihing sie herein geführt hatte, fragte er den Lehrer, ob dieser soweit sei, mit der Zeremonie zu beginnen.
War dieses der Fall, so hielt der Lehrer die Einleitung in Form einer formellen Rede. Er hieß alle Anwesenden willkommen und begrüßte speziell die Lehrer oder Ehrengäste die zu Besuch waren, lobte das Talent der Anwärter und hieß sie in der Familie willkommen. In einigen Schulen fand dieses auch erst statt, nachdem die Schüler aufgenommen wurden und ihre Gaben vor dem Sun Toi dargelegt hatten.
Gängige Themen der Rede waren die Historie des Stiles oder der Abstammungslinie, die Leistungen der Anwärter im kampfkünstlerischen Bereich, wie auch ihr Streben nach Lehre oder ihre Errungenschaften im Geschäftsleben. Gerne sprach der Lehrer auch über die Pflichten und Verantwortung die mit der Schülerschaft verbunden sind. Corpolongo gab an, dass nachdem der Lehrer seine Rede beendet hatte, die älteren Schüler an der Reihe waren, die Absolventen zu beglückwünschen. Oftmals legten die Anwärter Schwüre ab. Das „Durch das Tor eintreten Gelöbnis“ oder „Baimen Tie“ war ein kurzer Treueschwur, mit welchem die Traditionen des Stiles respektiert wurden, so wie auch dem Lehrer und den älteren Schülern gegenüber Respekt versprochen wurde. Ebenfalls schwor man, die gezeigten Techniken niemals illegal oder um andere zu verletzen einsetzen würde und man gelobte, niemanden außerhalb der Familie zu unterrichten. In manchen Zeremonien wurde das Gelöbnis auf ein rotes Stück Papier geschrieben, welches im Anschluss verbrannt wurde um dieses auf ewig zu besiegeln.
Die Tradition in Corpolongos Stil will es, dass der Schüler 9 Schwüre zu leisten hat, darunter:
„Ich werde meine Klan-Brüder vor Außenseitern beschützen, die versuchen ihnen Schaden zuzufügen, sie zu unterdrücken oder einzusperren.
Ich werde ihnen zu Hilfe eilen, wenn sie angegriffen oder belästigt werden und ich werde meine anderen Klan-Brüder zu Hilfe holen, wenn ich erfahre, dass sie von Außenseitern misshandelt werden.
Ich werde sie warnen, auf dass ihnen kein Unheil zustößt.
Ich werde die Verwandten meiner Klan-Brüder behandeln, als wären sie meine eigenen und ich werde mich jederzeit nach dem Wu Te verhalten.“
Der Familiengedanke der Bruderschaft, wie auch die Wichtigkeit des Wu Te werden in diesem Abschnitt noch weiterhin hervorgehoben.
Nach der Rede nahm der Lehrer drei Räucherstäbchen (eins benutzte man lediglich für Beerdigungen um so das Himmelreich zu besänftigen), verneigte sich und steckte die Räucherkerze in die dafür vorgesehene Schale. In anderen Traditionen vollzog der Lehrer den Kotau oder begab sich auf seine Knie und verneigte sich dreimal, wobei er mit seiner Stirn den Boden berührte. Danach folgten die Schüler dem Ritual, entzündeten eine Kerze und vollführten den Kotau, in manchen Fällen auch ohne das Anzünden eines Räucherstäbchens.
Mendel und Profatilov erklärten, dass bei ihrem Stil nun eine Abfolge von neun Verneigungen stattfand, genannt Sanguo Jiukou Dali. Dabei vollführt der Betroffene drei tiefe, drei mittlere und drei kleine Verneigungen. Diese physische Verkündigung des Gehorsams und der Unterordnung war genau das, wonach es aussieht. In Tony Yangs Zeremonie verneigt sich der Betroffene erst dreimal vor dem Lehrer und danach dreimal vor seinen älteren Kung-Fu Brüdern. Dieses galt als öffentliche Erklärung seiner Hingabe und Loyalität gegenüber dem Lehrer und dessen Familie und schweißte einen Bund zwischen Vater und Sohn der Kampfkünste. Eingebettet in die Zeremonie ist auch ein weiterer Aspekt, der beachtet werden sollte, und zwar das Überreichen und Entgegennehmen von Geschenken. Das Vergeben von Geschenken ist für den Chinesen das, was ein Händedruck für den Deutschen ist; ein Zeichen der Freundschaft und der Gastfreundlichkeit. Jedes Mal wenn ich meinen Lehrer besuche, bringe ich ihm und seiner Familie ein Geschenk mit und wenn ich ihn wieder verlasse, bietet er mir eins an. Jeder meiner Interviewpartner hatte den Brauch des Geschenke austauschens in irgendeiner Art und Weise in ihre Zeremonie integriert. Oft wurden Geschenke überreicht, wenn der Schüler den Kotau vor dem Lehrer vollzog oder aber am Ende der Zeremonie. Geschenke konnten z. B. aus alkoholischen Getränken, Zigaretten, Tee oder Früchten bestehen. Nicht nur war ein Geschenk gängig, sondern es symbolisierte ebenfalls einen persönlichen Gruß zwischen Schüler und Lehrer, ein Gruß welcher Freundschaft und Fürsorge ausdrückte. Mit dem Moment der Geschenkübergabe war der Schüler als ein Eingeweihter des inneren Kreises aufgenommen. Die Annahme des Geschenks von Seiten des Lehrers symbolisierte die Aufnahme des Schülers in die Familie. Auch ein aus Geld bestehendes Geschenk in Form des Hong Bao oder roten Umschlags gängig. Oft sieht man diese Umschläge in der chinesischen Neujahrszeit, während welcher sie an Kinder, Familie oder Freunde überreicht werden.
Während der Schüler den Kotau vor dem Lehrer vollzog, wurde das Geschenk mit beiden Händen dem Lehrer angeboten, während man den Hong Bao darunter versteckte. Wurde kein Geschenk angeboten, so überreichte man nur den Hong Bao mit beiden Händen. Die Offerierung mit beiden Händen war ein Zeichen des Respekts und stand dafür, dass man nichts vor der Person verbarg, der man das Geschenk anbot. Im kriegerischen Bereich bedeutete dieses auch, dass die Hände beider Kämpfer beschäftigt waren, sodass sichergestellt wurde, dass kein versteckter Angriff oder eine verborgene Waffe angewandt werden konnte. Üblicherweise nahm der Lehrer das Geschenk ebenfalls mit beiden Händen entgegen. Der Nennwert von Banknoten wurde nach der chinesischen Zahlentheorie von Gut und Böse erstellt. Die Zahlen Zwei (symbolisch für die Yin und Yang Dualität), Drei (welche die San Tsai oder drei Kräfte des Himmels, der Erde und des Mensches repräsentiert), Fünf (in Bezug auf die Wu Xing oder fünf Elemente), Acht (die sich auf das Bagua des I Ching bezieht) und Neun (das Produkt dreier Dreien) waren alle üblich. Die Zahl Vier wurde nie benutzt, da das Wort „Si“ (Vier) genauso ausgesprochen wurde wie das Wort für „Tod“. Die Zahlen $108 oder $99 wurden nicht nur als angemessen angesehen, sondern man freute sich über sie als Bringer des Glücks. Rivera legte dar, dass zwar der Lehrer dem Schüler oft Geld schenkte, dieser aber immer mehr an den Lehrer zurück überreichte als er selber erhielt.
Auch die Vergabe chinesischer Namen an den neu akzeptierten Schüler war ein Phänomen, welches selbst im Westen immer noch angewandt wird auch wenn einige Lehrer der Meinung sind, dass die Vergabe esoterischer chinesischer Namen ein trauriger Versuch ist, an eine Kultur anzuknüpfen, die der eigenen fremd ist. So vergibt z.B. Corpolongo einen Namen an einen neuen Schüler des inneren Kreises, der von dessen Charakter oder seinen kampfkünstlerischen Fähigkeiten herrührt. Schüler die besonders schnell waren, wurden daher nach Tieren wie der Schlange, dem Drachen oder dem mystischen Phönix benannt. Andere waren vielleicht besonders stark und so fanden sich die Begriffe für Bär, Tiger oder Pferd in ihren chinesischen Namen wieder. Wenn auch ungewöhnlich, so kam es dennoch in der Vergangenheit vor, dass der Schüler den Nachnamen des Lehrers erhielt.
Manche traditionelle Schulen gestalteten ihr Bai Shi nach der chinesischen Teezeremonie. Statt vor einem Sun Toi saßen die Beteiligten an einem Festtagstisch, wobei der Lehrer am Kopf des Tisches seinen Platz hatte und auch hier die Sitzfolge nach Altersdazugehörigkeit geordnet war. Oft hingen auch Bilder der verstorbenen Ahnen hinter dem Lehrer. Der Sihing braute dann den Tee und stellte den Anwärter auf Schülerschaft vor. Der betreffende Schüler goss dann den Tee jedem der Anwesenden ein und zwar beginnend mit dem Lehrer und dann entlang des Tisches, vom jeweils Ältesten abwärts.
Das Servieren des Tees von Schüler zu Lehrer steht symbolisch für physische Hilfe und dem Angebot, dem Lehrer die eigenen Kräfte zuteil werden zu lassen. Dabei ist wissenswert, dass die chinesische Variante der Teezeremonie bei weitem nicht so formell und detailliert gehandhabt wird, wie z.B. die in Japan. Darauf hielt der Sifu eine formelle Rede, bei der er die Leistungen des Schülers würdigte und im Anschluss trank jeder den servierten Tee und empfing damit als Familie der Kampfkunst den Schüler in seinem Kreis. In Corpolongos Tradition las der Schüler nach seiner Aufnahme Teile des I Ching vor um damit seine Rolle in der neuen Familie zu definieren. Aber wie bereits angemerkt hat jeder Stil seine eigenen Methoden für verschiedene Anlässe. Viele weniger traditionelle Lehrer wählten ein großes festliches Abendessen in einem Privathaus oder lokalen Restaurant. Der Abend wurde eingeleitet durch eine Teezeremonie, gefolgt vom Essen und der eigentlichen Feier. Oft wurde die Schülerschaft-Zeremonie in Verbindung mit dem chinesischen Neujahr begangen, daher konnte das Fest auch schon einmal bis tief in den nächsten Morgen hinein andauern. Natürlich wurden alle Kosten und Ausgaben von den neuen Schülern des inneren Kreises getragen.
Paolo Castaneda fand sich in einem interessanten Zwiespalt wieder, als er zum Schüler des inneren Kreises von Meister Kurt Wong ernannt wurde. Castaneda ist strikter Christ und daher kam es für ihn nicht in Frage, sich vor einer fremden Gottheit niederzuknien oder ihr sogar zu huldigen. Durch Diskussionen mit seinem Lehrer fanden die beiden aber einen Weg, in dem Castaneda seinem Sifu Geld überreichte und einen Schwur ohne religiöse Bezugnahme ablegte. Laut Castaneda wird dieses mehr und mehr gängig, da sich das Christentum immer mehr sowohl im Westen als auch in China ausbreitet.
Die kulturelle Revolution verbot es, dass Kampfkünste jeglicher Art ausgeübt oder trainiert wurden. Während dieser Zeit unterrichteten viele Lehrer einige wenige Schüler im Verborgenen. Religiöse Ikonographie und Gewänder waren ebenfalls verboten, was es natürlich unmöglich machte, einen Sun Toi zu bauen oder eine traditionelle Zeremonie durchzuführen. Hu Xi Lin war einer der wenigen Meister, die ich interviewte, die zu dieser Zeit in China lebten. Er erklärte, dass sein Lehrer Ma Han Qin ihm einfach sagte, dass er ab sofort sein Lehrling sei. Keine Zeremonie, Kotau oder Fest. Ma Han Qin sagte ihm lediglich, dass er sein Auserwählter sei, drehte sich um und fuhr mit dem Unterricht der Klasse fort. Sogar im 21. Jh. ist es wegen der derzeitigen politischen Lage immer noch unüblich, in China Schülerschaft-Zeremonien abzuhalten.
Ursprünglich hatten die meisten traditionellen Zeremonien eine Art Kotau, Geschenkübergabe, Schwurableistung oder die Erschaffung einer Bindung in ihrer Tradition verwurzelt. Einige wenige Varianten wie die besagte Teezeremonie waren üblich aber im Grunde konnte alles zurückgeführt werden auf das Versprechen, dem Lehrer, der Schule und dem Stil gegenüber loyal und gehorsam zu sein und sich selbst als engagierten Schüler und Verbreiter des Stiles anzubieten, einen Kotau vor dem Lehrer zu vollführen, dem Lehrer seine Hilfe anzubieten als wäre er sein eigener Vater, und dem Respekt zollen gegenüber der Ahnen des Stiles durch die Offerierung von Früchten, Geld und Wein.
Für den Laien mögen diese Gesten seltsam, vielleicht sogar albern wirken, aber für Kampfkünstler schaffen sie eine Brücke zu hingebungsvollen Männern und Frauen, die bereits Jahrhunderte vor uns studierten, analysierten und trainierten.
Dies mag der letzte verzweifelte Versuch sein, an eine alte Kriegerkultur anzuschließen, die lange vergangen ist und vielleicht nie wieder gesehen wird. Schüler und Lehrer erstellen eine Bindung die einzigartig in ihrer Ecke der Gesellschaft ist. Das Überleben des Stiles und seiner Lehren, sowie ein hoher Grad Ernsthaftigkeit wird garantiert durch einen Prozess in dem Schüler ihr Leben ihrer Kunst verschreiben. Alle Lehrer versuchten auf ihre Art, bessere Männer und Frauen zu formen und damit ihre eigene Note für die Nachwelt zu hinterlassen.
Die Kämpfer von gestern formten mit dem Wu Te einen ethischen Kodex und setzten damit einen Standard, nach welchem Kampfkünstler und Kampfsportler überall auf der Welt heute leben.
Trotz des Variantenreichtums der verschiedenen Zeremonien, existieren doch eine Menge Gemeinsamkeiten. Das Fundament der Respektbezeugung und die Manifestierung von Loyalität und Hingabe waren überall vorherrschend. So viele kulturelle Besonderheiten, wie die Überreichung von Geschenken, die Adoption eines „Sohnes“ oder die Ehrerbietung altehrwürdiger Geister liegen in diesen ausgetüftelten Zeremonien. Dennoch verstehen nur wenige Kampfkünstler heutiger chinesischer Systeme was diese Traditionen beinhalten. Ich hoffe durch die vorausgehenden Seiten ein wenig Licht in die Bai Shi Zeremonien gebracht zu haben und denen eine kleine Hilfe war, die wenig Erfahrung im Umgang mit Traditionen chinesischer Kampfkünste haben.